Es blieb nur die Kranzschleife "Meiner Lebensretterin"

Ein Kapitel aus dem "unbesungenen" und "unbeschriebenen" Widerstand / Von Beate Kosmala

Die Forschung über den Widerstand im Dritten Reich bemüht sich seit geraumer Zeit um die "unbesungenen Heldinnen und Helden". Im Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin beschäftigt sich Beate Kosmala mit dem Thema und fasst im folgenden Beitrag erste Ergebnisse ihres Forschungsprojekts "Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1945" zusammen, das von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, der Robert Bosch-Stiftung und dem Stifterverband gefördert wird. Ende des Jahres wird im Metropol Verlag Berlin der von Kosmala und Claudia Schoppmann herausgegebene Band "Überleben im Untergrund" erscheinen, in dem eine wissenschaftliche Tagung zum Thema bei der Reimers Stiftung in Bad Homburg dokumentiert wird.

1. Zivilcourage

"Wir danken jenen, die die in Deutschland so seltene Zivilcourage aufgebracht haben, selbst im Dritten Reich anständig zu bleiben." Diese Worte sandte der vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA emigrierte George Wronkow im August 1945 in einer Radiosendung in den Äther, und er führte aus, was für ihn "anständig" bedeutete: das Beispiel eines Berliners, der die Frau des 1942 verstorbenen Juden Wilhelm Meyer, einst Chefredakteur der Berliner Montagspost, aus den Fängen der Gestapo gerettet und in seiner Wohnung verborgen gehalten habe. Wronkows Beitrag, wenige Tage später im New Yorker Aufbau publiziert, ist höchst bemerkenswert, da hier bereits im Spätsommer 1945 auf ein Phänomen hingewiesen wurde, das in der Nachkriegszeit in Deutschland jahrzehntelang kaum wahrgenommen wurde. Es geht um eine nicht unerhebliche Anzahl von Deutschen, die den Mut gefunden hatten, verfolgten und tödlich bedrohten Juden unter hohem eigenen Risiko das Überleben in Deutschland zu ermöglichen.

Wronkow wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, ob die Witwe Wilhelm Meyers Jüdin oder Christin war, aber er war überzeugt, dass ihr Retter, der Berliner Karikaturist Alois Florath, nicht nach Rasse und Religion gefragt habe. Inzwischen ist längst bekannt, dass Susanne Meyer als Jüdin verfolgt wurde und nach dem Tod ihres Mannes allein in Berlin zurückblieb. Den einzigen Sohn hatten die Eltern 1939 im Alter von 13 Jahren mit dem "Kindertransport" nach Großbritannien in Sicherheit bringen können. Wie sie berichtete, waren es ihre "arischen" Freunde, die sie überredeten, sich ihrem Jungen zuliebe nicht deportieren zu lassen, sondern unterzutauchen, und es ist inzwischen bekannt, dass sie nicht nur von Florath, sondern von über zwanzig mutigen Frauen und Männern unterstützt und verborgen gehalten wurde.

Deutschland war spätestens seit dem am 23. Oktober 1941 verfügten endgültigen Auswanderungsverbot für alle Juden zur tödlichen Falle geworden, aus der es nur einen Ausweg gab: die Flucht in den Untergrund. Wenige Tage vorher hatte das Regime mit der reichsweiten Deportation der jüdischen Bevölkerung "in den Osten" begonnen. Die 164 000 Personen, die - unabhängig von ihrem Selbstverständnis und Glaubensbekenntnis - auf Grund der Nürnberger Gesetze zu Juden erklärt worden waren und im Herbst 1941 noch in Deutschland lebten, waren in Folge der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik eine isolierte, verarmte und überalterte Gruppe. Die genaue Zahl derjenigen, die sich als "U-Boote", wie sich die "illegal" Lebenden selbst nannten, dem Zugriff der Gestapo zu entziehen versuchten, wird sich nicht mehr exakt ermitteln lassen. Schätzungsweise 10 000 bis 15 000 Menschen tauchten in Deutschland zwischen 1941 und Kriegsende unter, davon etwa 5000 in Berlin, da die Anonymität der Großstadt die Chance, unerkannt die Zeit der Verfolgung zu überdauern, am ehesten zu gewährleisten schien. Ihr Alltag war bestimmt von der ständigen Angst vor Razzien und Ausweiskontrollen, vor Spitzeln und "Greifern" und der zufälligen Begegnung mit früheren Nachbarn oder Arbeitskollegen. Hinzu kamen die zunehmenden Bombenangriffe, die einerseits durch das wachsende Chaos die Chance, unerkannt zu bleiben, erhöhten, andererseits aber für Untergetauchte besonders gefährlich waren, da diese sich meist nicht in Schutzkellern aufhalten konnten. Nur etwa jeder vierte Illegale überlebte die Odyssee von Quartier zu Quartier bis zum Kriegsende. Fast jede(r) Überlebende war auf die Hilfe mehrerer Personen angewiesen, je nachdem, wie lange das Leben im Untergrund dauerte. Wir wissen von einzelnen, die bis zu 50, 60 Helferinnen und Helfer hatten. Umgekehrt haben einzelne Helfer oft zahlreichen Untergetauchten Hilfe geleistet. Die Anzahl derjenigen Deutschen, die Menschen beistanden, die durch Gettoisierung, Verschleppung und Ermordung bedroht waren, lässt sich vorsichtig auf mehrere Zehntausend schätzen.

2. Nicht-Erinnern

Die Frage nach den Gründen für dieses Nicht-Wahrnehmen und Nicht-Erinnern erfordert eine eigene Studie und wird - je nach Standort - unterschiedlich beantwortet. In der BRD ging in den 50er Jahren die Bereitschaft, sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu konfrontieren, gen Null. Erst mit der Berichterstattung über den Eichmann-Prozess 1961 wurde die Mauer des Schweigens durchbrochen. Und wo von den Verbrechen nicht gesprochen wird, kann auch nicht vom Widerstand die Rede sein. In Deutschland setzte die Holocaustforschung, die konkrete Beschäftigung mit dem Massenmord im besetzten Osteuropa, erst verhältnismäßig spät ein. Wesentlicher Grund für die Marginalisierung der Widerstandshandlungen derer, die das Leben von verfolgten Juden retteten, war die in den 50er Jahren einsetzende politische Verengung des Widerstandsbegriffs zu einem politisierten Widerstandsbild. Dem Attentat von Stauffenberg und seinen Mitverschwörern am 20. Juli 1944, gerichtet auf den Umsturz des politischen Systems, wurde eine politische Dimension zuerkannt, hinter der alle anderen Formen von Resistenz zurückstehen mussten. Auf diese Art wurden sie "ihrer potenziellen systemkritischen Sprengkraft weitestgehend enteignet", wie es Peter Steinbach (1994) formulierte. Heute gilt es, die Gruppe der Helfer und Retter, die seit Ende der 80er Jahren wieder in das Blickfeld von Historikern gerückt sind, für die Widerstandsforschung zugänglich zu machen.

Susanne Meyers Berichte aus der Nachkriegszeit ermöglichen die Rekonstruktion eines weit verzweigten Geflechts von mehr als 20 Helferinnen und Helfern an verschiedenen Orten, die sich zum Teil untereinander kannten und die Verfolgten weitervermittelten, zum Teil aber nichts voneinander wussten. Es handelt sich um eine politisch und sozial heterogene Gruppe von Personen, deren jeweiliger sozialer Kontext die Vielgestaltigkeit der Motive, aber auch die Tragweite ihres konkreten Handelns erahnen lässt und zeigt, welche erstaunlichen Handlungsspielräume die zum Helfen Entschlossenen zu nutzen wussten.

Am 7. Januar 1943 verließ Susanne Meyer ohne gelben Stern ihre Berliner Wohnung und fuhr vom Bahnhof Zoo mit dem Zug nach Schlesien, wo sie von ihren künftigen Quartiergebern Hans-Wolfgang Lent (1897-1945) und Ingeborg Lent (1911-1988) an der Bahnstation Lipke erwartet wurde. Vermittler dieses Unterschlupfes war Dr. Eduard Stadtler, in den 20er Jahren Herausgeber nationalistischer Schriften, der nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zeitweilig eine unrühmliche Rolle als Verlagsdirektor bei Ullstein gespielt hatte. Mitte der 30er Jahre hatte er sich vom Nationalsozialismus abgewandt, und Ende 1942 war er es, der Susanne Meyer zum Untertauchen und später immer wieder zum Durchhalten ermutigte.

Hans-Wolfgang Lent, Gutsherr auf dem Familienbesitz in Alt-Lipke, schien seiner frühen politischen Richtung nach keineswegs prädestiniert, Retter einer Jüdin zu werden. Nach dem Ersten Weltkrieg war er "national-revolutionär" eingestellt und in den Freikorps politisch aktiv. Eduard Stadtler hatte zum Kreis seiner frühen Gesinnungsgenossen gehört. 1929 wurde Lent zum SA-Standartenführer ernannt und trat in die NSDAP ein. Als er ein Jahr später erstmals den Ruf "Juda verrecke" hörte, verließ er die Partei, und in den folgenden Jahren knüpfte er Verbindungen mit anti-nationalsozialistischen Gruppen und arbeitete mit örtlichen Kommunisten zusammen, was ihm 1933 einige Wochen Haft eintrug. In den folgenden Jahren blieb er unbehelligt, stand aber unter Beobachtung. Umso mutiger war es von Ingeborg und Hans-Wolfgang Lent, Eltern von drei Kindern, eine ihnen unbekannte Verfolgte aufzunehmen, zumal das Erdgeschoss des Gutshauses durch eine SS-Nachrichtentruppe belegt war.

Als nach etwa sechs Wochen ein Freund der Lents im Nachbarort verhaftet wurde, fand die Zeit in Schlesien für die Berliner Jüdin ein jähes Ende, und sie musste nach Berlin zurückkehren. Stadtler war erneut hilfreich und vermittelte sie nun ins Ruhrgebiet zu Verwandten seiner Frau. "In Düsseldorf", erinnert sich die Untergetauchte, "wurde ich abwechselnd bei verschiedenen Geschwistern der gleichen Familie Terworth in verschiedenen Stadtteilen beherbergt, alles fromme Katholiken." Später gelangte sie durch Alois Florath in ein 150-Seelen-Dorf bei Rheinsberg in Brandenburg, wo er sie als seine Sekretärin ausgab. In diesem Ort, während des Krieges auch Zuflucht für nichtjüdische Nazigegner, bewohnte die sozialdemokratische Journalistin Herta Zerna aus Berlin mit ihrer Mutter ein kleines Haus.

Die beiden Frauen spielten fortan eine wichtige Rolle im Überlebenskampf von Susanne Meyer, ebenso wie Elise und Georg Steffen, Inhaber eines Gasthofs mit Fremdenzimmern, wo sie zeitweilig Unterkunft fand. Über ihre Helfer schrieb sie später: "Herta Zerna und ihre Mutter waren über meine Identität unterrichtet. Herr und Frau Steffen errieten sie, ohne etwas zu sagen. Bei meiner Abreise am Ende des Monats jedoch gab mir Frau Steffen ein geschlossenes Couvert. Es enthielt die sämtlichen unberührten Lebensmittelmarken und die Aufforderung, wiederzukommen." Davon machte sie bald Gebrauch, als die Bombenangriffe auf Berlin immer stärker wurden und sie sich in keinen Luftschutzkeller wagen konnte. Der Landwirt und Bürgermeister Georg Steffen entstammte einer Familie hugenottischen Ursprungs, die seit Generationen die Dorfschulzen gestellt hatte. Seiner Gesinnung nach war er - wie der Enkel versichert - bürgerlich-konservativ und von vornherein Gegner der Nationalsozialisten. 1933 sei er in die NSDAP eingetreten, um seine Vertreibung aus dem Amt zu verhindern. Niemals, so Susanne Meyer, habe man im Dorf eine NS-Fahne gesehen, und die polnischen und ukrainischen Zwangsarbeiter seien bei Steffens stets gut behandelt worden. Das Ehepaar, dessen zwei Söhne an der Front waren, bot mehreren politisch oder rassistisch Verfolgten Schutz, unter ihnen Otto Suhr, dem späteren Regierenden Bürgermeister von Berlin, der sich mit seiner jüdischen Frau Susanne in den Gasthof der Steffens zurückzog, wenn die Lage in Berlin kritisch wurde.

Das Schicksal von Georg Steffen, einem bisher unbekannt gebliebenen Helfer, zeigt ein Stück verdrängter deutscher Nachkriegstragödie. Nachdem er nach Kriegsende zunächst sein Amt als Bürgermeister behalten sollte, wurde er wenig später von missgünstigen Einwohnern denunziert, von den Sowjets verhaftet und im Lager Sachsenhausen interniert. "Als die Nachricht zu uns nach Berlin gelangte", schreibt Susanne Meyer, die nach Berlin-Charlottenburg zurückgekehrt war, "war er schon längst in dieses Räderwerk geraten." Vergeblich blieben die verzweifelten Versuche von Elise Steffen und ihren Söhnen, die noch kurz zuvor bei ihnen untergetauchten Kommunisten ausfindig zu machen, um sie zu einer Intervention zu Gunsten ihres Helfers zu bewegen. Einmal noch konnte Frau Steffen ihren Mann im Lager sehen. Nach einem halben Jahr Haft starb er an Hunger und Entkräftung. Der Familiengrabstein auf dem Dorffriedhof trägt bis heute die ebenso lakonische wie irreführende Inschrift "verschwunden 1945". Nach dem Bau der Mauer waren die Steffens von den im Westen lebenden oder in das Ausland emigrierten ehemaligen Untergetauchten abgeschnitten. Wie der Enkel zu berichten weiß, blieb der Familie nur die von Susanne Meyer 1973 zum Tod seiner Großmutter gestiftete Kranzschleife mit der Aufschrift "Meiner Lebensretterin" als Erinnerungsstück an den Widerstand von Elise und Georg Steffen erhalten.

Völlig unbeachtet waren die Rettungsaktivitäten zumindest in Westberlin nicht geblieben. 1957 hatte der jüdische Autor Kurt Grossmann sein Buch mit dem etwas rührselig anmutenden Titel "Unbesungene Helden" publiziert, in dem er die atemberaubenden Geschichten deutscher Retter und ihrer Untergetauchten darstellte. Das Adjektiv "unbesungen" im Sinne von "unbeschrieben" trifft auf die von Grossmann so Bezeichneten in vielen Einzelfällen, aber auch in ihrer Gesamtheit, heute noch zu. Grossmanns Buch veranlasste damals die Jüdische Gemeinde zu Berlin, den "Heinrich Stahl-Preis" im Jahre 1958 nicht an eine Einzelperson zu vergeben, sondern einen Fonds "Unbesungene Helden" zu schaffen. Joachim Lipschitz, damaliger Innensenator, der 1944 als "Halbjude" selbst verfolgt und untergetaucht war, nahm sich dieser Ehrungsinitiative an und schuf die Voraussetzung, dass in den Jahren 1958 bis 1963 736 Berlinerinnen und Berliner, "die in der NS-Zeit Verfolgten uneigennützig Hilfe gewährt haben", als "Unbesungene Helden" ausgezeichnet werden konnten. Der Personenkreis blieb allerdings beschränkt. Bereits verstorbene Helferinnen und Helfer wurden nicht berücksichtigt, ebenso wenig diejenigen, die in Ostberlin lebten oder in die DDR bzw. nach Westdeutschland verzogen waren. Andere deutsche Städte sind dem Berliner Beispiel nicht gefolgt. Seit 1970 wurden etwa 250 "Unbesungene Helden" vom Bundespräsidenten mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

3. Deutsche Retter

Bezeichnenderweise war es wiederum ein jüdisch-amerikanischer Forscher, der kurz vor dem Krieg aus Berlin emigrierte Politologe Manfred Wolfson, der in den 60er Jahren - mit Unterstützung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung - deutsche Retter zum Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen Studie machte, deren Ergebnisse aber nur einem kleinen Kreis Interessierter zugänglich war. Es ist inzwischen bekannt, dass in Frankfurt am Main "Rettung" in ungleich geringerem Umfang stattgefunden hat als in Berlin, was vor allem mit dem drastischen Tempo der Deportationen, die bereits im September 1942 nahezu abgeschlossen waren, zu erklären ist. Einer von Wolfsons Interviewpartnern war Dr. Fritz Kahl, der in Frankfurt-Bockenheim als praktischer Arzt tätig war. Als eine seiner jüdischen Patientinnen für sich und ihren Verlobten um Hilfe bat, entschied er sich spontan zum Rettungsversuch, weil er sich im Klaren war, welches Schicksal sie erwartete: "Ich habe (…) zum ersten Mal im Jahr 1942 geheim aufgenommene Aufnahmen gesehen von Massenexekutionen und habe außerdem mehrere Leute gesprochen, die in Konzentrationslagern gewesen sind." Fritz Kahl versteckte Herrn Eisenstädt, Goldschmied aus Hanau, der aus dem KZ Majdanek bei Lublin entflohen war, mehrere Wochen auf seinem Dachboden. Dann gelang es dem Arzt, in einer kühnen Aktion falsche Papiere für das Paar zu bekommen, und seine Frau Margarete, die im Bodenseegebiet ortskundig war, begleitete das Paar ins Schweizer Grenzgebiet. Die Flucht gelang.

Kahls Entscheidung war wesentlich beeinflusst von dem Wissen, was die Juden nach der Deportation erwartete. Die massive Beteiligung der Wehrmacht im Vernichtungsprozess im Krieg gegen die Sowjetunion sorgte für die Verbreitung von Gerüchten und Nachrichten in der Heimat, und mit den zunehmenden militärischen Rückschlägen im Osten, besonders nach der Katastrophe von Stalingrad, wurde in Deutschland immer mehr über die Massenmorde gesprochen, wenngleich die monströse Dimension des Holocaust nicht in ihrem vollen Ausmaß erkannt werden konnte.

Von den Verschwörern des 20. Juli war die Vernichtung der europäischen Juden erst spät wahrgenommen worden. Zwar habe, so Hans Mommsen, die Wahrnehmung des Holocaust bei einzelnen den Entschluss, das NS-Regime zu beseitigen und Hitler zu töten, nachhaltig befördert, aber dieses Motiv habe nie im Vordergrund gestanden. Dies mag auch für die Mitglieder des Kreisauer Kreises zugetroffen haben, die in erster Linie Themen des künftigen Staats- und Wirtschaftsaufbaus ausarbeiteten, seit Ende 1943 und Frühjahr 1944 aber auch ein Attentat auf Hitler immer wieder diskutierten. Dass keineswegs alle Beteiligten sich damit begnügten, zeigt das Beispiel von Dr. Harald Poelchau (1903-1972), herausragende Gestalt des deutschen Widerstands, der als Mitglied des inneren Kerns des Kreisauer Kreises längst in den einschlägigen Widerstandslexika berücksichtigt ist. Weniger bekannt ist dagegen sein unerschrockener, höchst riskanter und überaus einfallsreicher Einsatz zur Rettung von Juden, den er unter den kaum vorstellbaren psychischen Belastungen als Gefängnispfarrer in Berlin-Tegel leistete. In den Jahren von 1934 bis 1945 musste er mehr als tausend Menschen in Plötzensee zum Schafott führen, unter ihnen Mitglieder der "Roten Kapelle" und Männer des 20. Juli. Er nutzte seine Position als Geistlicher, ihnen Nachrichten zukommen zu lassen und stand ihnen in ihrer letzten Stunde bei.

Poelchau, der in Verbindung mit der Dahlemer Gemeinde der Bekennenden Kirche stand, war auch aktiver Mitarbeiter der Berliner Widerstandsgruppe "Onkel Emil", deren Mitgliederkreis in erster Linie aus ethisch-humanitären Motiven untergetauchten Juden und anderen Verfolgten half. Aber nicht nur als Vermittler von Papieren, Lebensmittelkarten und Unterkünften half Poelchau, sondern er nahm in dringenden Fällen Verfolgte in der eigenen Wohnung auf. Als im Februar 1945 die Geschwister Rita und Ralph Neumann eines Nachts an seine Tür klopften, fanden sie sogleich Aufnahme. Der 19-jährige Ralph war kurz zuvor in eine Militärkontrolle geraten und der Gestapo übergeben worden. Auch seine Schwester wurde festgenommen. Kurz danach gelang es ihnen, während eines Bombenangriffs aus dem Gefängnisgebäude zu entkommen und die rettende Adresse der Poelchaus zu erreichen. Auf Grund ihrer Zeugenaussagen wurden Dorothee und Harald Poelchau 1971 von der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt. Diese Auszeichnung wurde bisher 390 Deutschen zuerkannt.

Immer wieder konnte Poelchau andere Personen dafür gewinnen, die von ihm unterstützten U-Boote bei sich aufzunehmen. Eine von ihnen, "Muttchen Schneider" aus Potsdam, war bereit, Lotte Holzer, jüdisches Mitglied der kommunistischen Widerstandsgruppe Baum, nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis in ihrer Wohnung zu verstecken. Die Verfolgte berichtete später: "Sie hatte es nicht leicht mit mir, denn Nacht für Nacht schrie ich die erste Zeit nach meiner Flucht im Schlaf, und die Wände der Neubauwohnung waren dünn." Frau Schneider konnte nicht mehr in den Genuss einer Ehrung kommen, wie wir durch Lotte Holzers Bericht erfahren: "Als ich sie im Herbst 1945 wiederfand, war sie durch den jahrelangen Hunger, sie hatte ja seit 1942 immer ihre Lebensmittelkarten geteilt, so geschwächt, dass sie, soviel Mühe wir uns um sie gaben, dahinsiechte und Mitte des Jahres 1946 verstarb." Gemessen an den Zahlen der Ermordeten war das Phänomen "Rettung", der Widerstand gegen die Deportation der Juden, nur eine "Fußnote des Holocaust", wie es kürzlich der Forscher Jürgen Matthäus formulierte. Tatsächlich war angesichts der überwiegenden Mehrheit der Deutschen, die gleichgültig oder ängstlich wegschauten (oder den Völkermord guthießen und ihn aktiv unterstützten), die Zahl der Retterinnen und Retter gering, aber nicht so gering, wie lange vermutet. Bisher konnten Namen und Daten von 2290 Deutschen, die nachweislich an der Rettung von Juden beteiligt waren, in einer Datenbank dokumentiert werden, und täglich kommen durch die Auswertung weiteren Materials neue Namen hinzu. Sie kamen aus allen sozialen Schichten und Milieus und halfen aus den unterschiedlichsten Gründen, sei es auf Grund religiöser Überzeugung oder aus politischen Motiven, vor allem aber aus Mitmenschlichkeit. "Muttchen Schneider" steht für eine große Zahl couragierter Frauen, die den Widerstandswillen und die Widerstandskraft aufbrachten, unter eigener Gefährdung "anständig" und mitmenschlich zu handeln. Weit mehr als die Hälfte des bisher dokumentierten Beteiligten war weiblich. Ausschlaggebend war zum einen die Tatsache, dass ein Großteil der männlichen Bevölkerung an der Front war, zum andern konnten sich die Frauen das vorherrschende Frauenbild, das ihnen Widerstand nicht zutraute, zunutze machen und ihre spezifischen "Qualitäten" gezielt einsetzen.

In ihrer Mehrheit waren die "Retter" ganz "gewöhnliche" Deutsche, die nicht von vornherein dem Idealtypus einer altruistischen Persönlichkeit entsprachen. Gelegentlich wurde die Notlage und die in jedem Fall bestehende Abhängigkeit der Verfolgten unverblümt ausgenutzt. Dass bei der Erforschung dieses Widerstands Sorgfalt geboten ist, um nicht bei vorschneller "Konjunktur" von Rettungsgeschichten der Gefahr neuer Geschichtslegenden aufzusitzen, zeigt bereits ein Zitat aus dem Brief einer Retterin von 1947 an ihre ehemaligen jüdischen Nachbarn: "Aber so ist das nun heute in Deutschland; hat man nur einmal mit einem Juden gesprochen, - aber um Gottes Willen nicht, wenn es jemand sah - so macht man heute eine Heldentat daraus. Bücher könnte man schreiben und einen Abscheu vor den Menschen bekommen, den man nie wieder los wird."

Eine genaue Zahl derer, die bereit waren zu helfen, wird sich nicht mehr ermitteln lassen, nicht zuletzt, weil ein großer Teil der Untertauch- und Rettungsversuche gescheitert ist. Oft wurden die Untergetauchten bei Straßenrazzien und Kontrollen in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln verhaftet, andere fielen Denunziationen zum Opfer. In letzteren Fällen waren dann oft auch die Retter der Verfolgung durch die Gestapo ausgesetzt.

Dies wirft die Frage auf, wie gefährlich es in Deutschland in der Zeit von 1941 bis 1945 tatsächlich war, Juden zu helfen. Im deutschen Strafgesetzbuch war ein eindeutiges Verbot zur Unterstützung verfolgter Juden nicht verankert. Wenn es zu Gerichtsverfahren kam, ging es um Delikte wie "Rassenschande", Urkundenfälschung, Verstöße gegen die "Kriegswirtschaftsverordnung", illegaler Grenzverkehr oder "Rundfunkvergehen". Die Beherbergung von Juden und einzelne Hilfeleistungen wurden nicht durch die Justiz verfolgt, sondern unterlagen sicherheitspolizeilichen Maßnahmen. Grundlage dafür war ein Erlass des RSHA vom 24. Oktober 1941, der "freundschaftliche Beziehungen" zwischen so genannten "Deutschblütigen" und Juden zur strafbaren Handlung erklärte; bei Zuwiderhandlung wurde dem "deutschblütigen Teil" Schutzhaft bzw. Einweisung in ein Konzentrationslager für drei Monate angedroht.

4. Keine Todesurteile

Viele Überlebende betonen im Nachhinein, dass sie ihre Retter in tödliche Gefahr gebracht hätten. Bisher ist jedoch innerhalb der deutschen Grenzen kein Todesurteil bekannt, das wegen Hilfe für Juden verhängt wurde. Allerdings konnte die Haft im Konzentrationslager für den Retter tödlich enden. Die Todesurteile des Volksgerichtshofs gegen Robert Havemann und seine Mitverschworenen vom Dezember 1943, die der sozialistischen Widerstandsgruppe "Europäische Union" angehört hatten, wurden mit der "Vorbereitung zum Hochverrat" begründet. Aus der Urteilsschrift geht hervor, dass die Angeklagten auch in größerem Umfang untergetauchte Juden unterstützt hatten. Diese Tatsache wurde als erschwerendes Moment zur Untermauerung der Todesstrafe benutzt, die eigentliche Begründung beruhte jedoch auf dem Vorwurf des Hochverrats, ein Vorgehen, das sich auch in anderen Verfahren feststellen lässt. Auch der sondergerichtliche Umgang mit dem Tatbestand der "Judenhilfe" legt als Kalkül der Justiz nahe, Solidarität mit Juden nicht als Widerstand gegen die antijüdischen Maßnahmen und die nationalsozialistische Genozidpolitik zu bewerten, sondern als anormales Verhalten irregeleiteter Menschen, das anderen Delikten untergeordnet wurde. Die Fiktion der "Volksgemeinschaft" sollte an diesem neuralgischen Punkt nicht in Frage gestellt werden.

Die drakonischen Urteile der Sondergerichte für Handlungsweisen von geringer krimineller Bedeutung erzeugten jedoch ein Klima von Bedrohung und ließen jede Hilfe äußerst risikoreich erscheinen. Nachdem seit Stalingrad innerhalb der deutschen Bevölkerung die Zweifel am "Endsieg" gewachsen waren, verstärkten sich auch die Anstrengungen der Gestapo, "Defätismus" durch härteste Maßnahmen zu unterbinden. Die Furcht vor der Gestapo war real und begründet. Die Retterinnen und Retter waren sich meist sehr wohl bewusst, dass ihre Taten, die sie selbst als "normales mitmenschliches Verhalten" bezeichneten, als Angriff auf die "Volksgemeinschaft" gewertet und hart bestraft wurden. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, dass ihr ziviler Mut auch die jüdische Selbstbehauptung ermöglichte und mit dem jüdischen Widerstand verzahnt war, was die bereits erwähnte Herta Zerna 1978 formulierte: ". . . sie waren doch die Helden, die es wagten, dem Marsch in den Tod zu widerstehen." Die Retter, deren Widerstandshandlung angesichts der Judenvernichtung zur dringlichsten und bedeutendsten Aufgabe geworden war, haben Aussagen von Zeitgenossen, man habe nichts gewusst und nichts tun können, als Ausflucht enthüllt. Sie sollten ins Zentrum der Widerstandsgeschichte gerückt werden. 

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Dokument erstellt am 19.07.2001 um 21:36:17 Uhr
Erscheinungsdatum 20.07.2001